Eine ziemlich spannende und recht aktive Forschungsrichtung ist die Einbettung der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPD) in den Kontext der Theory of Mind (ToM) / Mentalisierung. Therapieformen basierend darauf werden als die nächste Generation der Therapien für BPD gehandelt. Knapper Abriss: ToM bezieht sich auf die Fähigkeit, dass Verhalten anderer durch Zuschreibung von mentalen Zuständen zu erklären. Wir schreiben anderen Menschen Wünsche und Emotionen (affektive ToM) bzw. Wissen und Überzeugungen (kognitive ToM) zu, um zu erklären, wieso ein Mensch so und nicht anders gehandelt hat. Diese Fähigkeit entwickelt sich bei gesunden Kindern im Alter von etwa 4 Jahren, bei autistischen Kindern im Alter von etwa 9 Jahren. Eye-Tracking-Experimente zeigen, dass diese Fähigkeit nicht auf Menschen beschränkt ist, auch andere Primaten können auf diese Weise mentalisieren.
Eine Meta-Analyse von 2018 zeigt, dass Borderliner und gesunde Kontrollen ähnlich gut bei der affektiven ToM abschneiden, Borderliner jedoch ein klares Defizit (Cohen’s D = 0,44 / p < 0,01) bei der kognitiven ToM besitzen. Siehe Bild unten. Borderliner können also treffsicher, oder zumindest so treffsicher wie gesunde Kontrollpersonen, anderen Menschen Emotionen zuschreiben, haben aber Schwierigkeiten dabei, die Überzeugungen anderer akkurat zu erkennen. Statt akkurater Überzeugungen schreiben Borderliner anderen Menschen negativere und extremere Überzeugungen zu und versuchen das Verhalten anderer auf Basis dieser extremen Überzeugungen zu erklären.
Neurologische Untersuchungen lassen vermuten, dass es sich um eine Störung im Superior Temporal Sulcus (pSTS) handelt. Dieser Teil des Gehirns ist zentral beteiligt an Mentalisierung, nur ein anderes Wort für ToM, und zeigt deutliche Beeinträchtigungen bei Borderlinern. Die Störung selbst könnte wiederum durch ein unsicher-ambivalentes Bindungsschema entstehen. Sind die Eltern stabil und positiv, so erleben Kinder die Vorhersagbarkeit der Bezugsperson und können so eine verlässliche und widerspruchsfreie ToM entwickeln. Auch bei stabilen und negativen Eltern ist dies der Fall, wobei sich hier statt der sicheren eine vermeidende Bindung ergibt. In beiden Fällen zeigt die entwickelte ToM im Großen und Ganzen Erfolg bei der Erklärung und Vorhersage von Verhalten.
Problematisch im Bezug auf die ToM wird es im Falle von emotional instabilen Bezugspersonen. Die Unvorhersagbarkeit des Verhaltens verhindert die Entwicklung einer erfolgreichen ToM. Jegliche Erklärungsversuche des Verhaltens der Bezugperson durch das Kind müssen an der Instabilität der Bezugsperson scheitern. Diese Kinder starten entsprechend mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsschema und einer unterentwickelten ToM ins Erwachsenenleben, ein Nährboden für BPD.
Eine gängige Ausprägung der Störung der ToM bei Borderlinern ist, neben der Störung in der kognitiven ToM, die sogenannte Hypermentalisierung. Siehe zum Beispiel hier, hier und hier. Die Hypermentalisierung ist eine Hyperaktivität der ToM, Zuschreibungen erfolgen exzessiv und über das gesunde Maß hinaus. Der Zielperson wird eine unrealistische Menge an Emotionen und Überzeugungen zugeordnet und so verschiedene, konkurrierende Theorien des Verhaltens jener Person entwickelt. Es wird vermutet, dass eine solche exzessive Analyse die Emotionsregulation stark beeinträchtigen kann (der Kern jeder BPD). Diese Hypermentalisierung, wie auch die negative Tönung von Zuschreibungen, ist nicht exklusiv bei BPD zu finden. Auch bei Depressionen ist dieses Denkmuster präsent. Insofern ist es leicht zu sehen, dass Therapieformen basierend auf ToM auch bei anderen psychischen Störungen Abhilfe schaffen könnten.
Das Gegenteil von Hypermentalisierung, das nur am Rande, ist Hypomentalisierung. Menschen mit einer Störung in dieser Richtung sind im Allgemeinen unreflektiert, im Bezug auf sich wie auch im Bezug auf mentale Zustände anderer, denken in Schwarz-Weiß-Schemen, machen massive und unzulässige Generalisierungen und neigen dazu, Dinge wortwörtlich zu nehmen. Erzählungen von Erfahrungen besitzen keine abstrakte Komponente und stellen keine übergeordneten Verbindungen her, sondern folgen einem wortwörtlichen Schema wie etwa “Er hat gesagt, dann hat sie gesagt, dann hat er gesagt”.
Eine weitere Komponente der Störung der ToM bei Borderlinern ist der Mind-World-Isomorphismus. Das Wort Isomorphismus wird auch in der Mathematik verwendet, vor allem in der Gruppentheorie, und bezeichnet eine Identität. Es handelt sich also um ein Denkmuster, dass das eigene mentale Abbild der Welt mit der Realität der Dinge gleichsetzt. Anders formuliert: Ein Mangel in der Erkenntnis, dass die eigene Vorstellung der Welt und der Menschen in ihr i.A. deutlich von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass dies an der Intensität der erfahrenen Emotionen liegt. Je intensiver die Emotionen sind, und das sind sie bei Borderlinern durch die mangelhafte Emotionsregulation fast immer, desto schwieriger wird es, eine solche Abgrenzung vorzunehmen.