Wie findet man (heimlich) raus, ob eine Person neurotisch ist?

Manche Fragen sind sehr schlecht für erste Treffen, selbst man die Antworten manchmal gerne wüsste. Und stellt man diese Fragen doch, entgegen guter Etikette, so ist die Wahrscheinlichkeit recht gering, dass man eine ehrliche Antwort bekommt. Dazu gehören Fragen wie:

  • Bist du emotional stabil?
  • Hast du oft Stimmungsschwankungen?
  • Hast du oft Wutausbrüche?
  • Bist du oft grundlos erschöpft?
  • Bist du geplagt von Ängsten?

All diese Fragen messen Neurotizismus, ein relativ stabiles Merkmal der Persönlichkeit (siehe Big-Five-Modell). Glücklicherweise gibt es recht harmlos erscheinende Fragen, die eine exzellente Korrelation mit Neurotizismus zeigen. Es ist sehr einfach, das Maß an Neurotizismus einer Person zu bestimmen, ohne persönliche und geladene Fragen zu stellen. Vier Aspekte, die eine erstaunlich gute Korrelation mit Neurotizismus zeigen, sind Gedächtnis (r = -0,56), Selbstkritik (r = 0,52), Vergangenheitsfokus (r = 0,36) und Einschlafdauer (r = 0,33). Diese vier Aspekte zusammengenommen sagen das Level an Neurotizismus praktisch perfekt voraus – siehe hier den Vergleich zwischen dem Mittelwert der Antworten auf diese vier Fragen und dem Level an Neurotizismus gemessen mittels eines validierten Big-Five-Inventories.

  • Hast du ein gutes Gedächtnis?
  • Bist du sehr selbstkritisch?
  • Denkst du oft über die Vergangenheit nach?
  • Brauchst du lange zum Einschlafen?

Ein klares Ja gefolgt von drei klaren Nein sind praktisch ein Garant für geringen Neurotizismus (hohe emotionale Stabilität). Bei einem klaren Nein gefolgt von drei klaren Ja darf man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Person hochneurotisch ist. Für alles dazwischen übersetzt sich der Mittelwert dieser Antworten fast eins-zu-eins in das Maß an Neurotizismus, wobei die erste Frage natürlich umgekehrt codiert einfließt.

Interessant wäre zu wissen, wieso das funktioniert. Also wieso jene vier Aspekte eine so starke Korrelation mit Neurotizismus zeigen. Und ob es sich hier um ursächliche Beziehungen handelt oder ob verborgene dritte Variablen für die Beziehung sorgen. Ich habe meine Theorien zum Zusammenhang zwischen Gedächtnis und emotionaler Labilität, aber für die Anwendung spielt es zum Glück keine Rolle, wieso die Korrelationen in dieser Form bestehen. Es reicht zu wissen, dass dieser kurze Fragebogen ganz wundervoll funktioniert.

Will man es noch etwas genauer wissen, wobei der zusätzliche Nutzen nicht besonders groß ausfällt, könnte man noch die negative Wertung der Schulzeit (r = 0,29) und Impulsivität (r = 0,29) hinzunehmen. Bei Frauen, bei Männern jedoch nicht, haben sich zusätzlich Tagträumerei (r = 0,32) und Ambitioniertheit (r = -0,30) als verlässliche Indikatoren für Neurotizismus gezeigt, wobei Ambitioniertheit hier auch umgekehrt codiert werden muss.

PS: Die Analyse basiert auf einem recht großen Datensatz aus dem Harvard Dataverse mit 584 Umfrage-Teilnehmern. Demographie: 45 % Frauen, 40 % Singles, 63 % kinderlos, mittleres Alter 36 Jahre (von 14 bis 84 Jahren).

Energieverbrauch beim horizontalen Laufen / Joggen

Es gibt verschiedene Ansätze, um den Energieverbrauch beim Laufen oder Joggen zu berechnen. Die Publikation Energy expenditure during level human walking: seeking a simple and accurate predictive solution (Ludlow / Weyand), erschienen 2015 im Journal für angewandte Physiologie, ist eine Verfeinerung des in Medizin häufig verwendeten ACSM-Modell. Der große Vorteil des neuen Modells ist:

  • Es wird nur eine Gleichung (statt zwei) verwendet, um den gesamten Bereich möglicher Geschwindigkeiten abzudecken
  • Die Geschwindigkeit fließt nichtlinear ein, so wie es biomechanische Modelle des Laufens vorhersagen*
  • Es ist laut der Publikation genauer als das ACSM-Modell

Ein Nachteil ist jedoch, dass es Steigungen nicht berücksichtigt. Es erlaubt nur die Berechnung des Energieverbrauchs bei horizontaler Bewegung. Bei nicht-vernachlässigbaren Steigungen muss daher das ACSM-Modell benutzt werden. Nach den Konvertierungen von ml O2 zu kcal sieht die Formel für den Energieverbrauch E (in kcal) so aus:

E = (0,036+0,03*v²/h)*m*t

Wobei v die Lauf- bzw. Jogging-Geschwindigkeit ist (in m/s), h die Körpergröße (in m), m die Körpermasse (in kg) und t die Zeit (in min). Für die Umrechnung von km/h in m/s, einfach den km/h-Wert durch 3,6 teilen. Die typische Geschwindigkeit beim Laufen ist knapp 5 km/h = 1,4 m/s und die typische Geschwindigkeit beim Jogging 9 km/h = 2,5 m/s.

Bei einer Stunde laufen t = 60 min mit der typischen Geschwindigkeit v = 1,4 m/s (moderates Laufen), einer Körpergröße von h = 1,75 und Masse = 75 kg verbraucht man also grob 310 kcal, was gut mit experimentell-gemessen Werten übereinstimmt. Diesselbe Zeit joggen bei v = 2,5 m/s und denselben Körpermaßen bringt einen Verbrauch von 640 kcal. Wer die metabolische Rate (ml O2 pro min und kg) berechnen will, findet die Formel im Abstract der Publikation. Ich finde die Rechnung in kcal nützlicher.

Für v = 0 erhält man den Ruheverbrauch in dem gewählten Zeitraum und das erlaubt zu bestimmen, um welchen Faktor die Bewegung den Energieverbrauch gegenüber dem Ruheverbrauch erhöht. Bei t = 60 min und m = 75 kg ergibt sich ein Ruheverbrauch von 160 kcal. Laufen bei moderatem Tempo verdoppelt also grob den Energieverbrauch, Joggen steigert den Energieverbauch um das Vierfache. Beim Sprinten, auch für Normalsterbliche gut möglich mit v = 20 km/h = 5,6 m/s, erhält man eine Steigerung des Energieverbauchs um den Faktor Sechzehn.

  • E(Laufen) = 2*E(Ruhe)
  • E(Joggen) = 4*E(Ruhe)
  • E(Sprinten) = 16*E(Ruhe)

Wer nicht jedesmal die Formel auspacken möchte und es so genau auch gar nicht wissen muss, könnte sich einmal den Ruheverbrauch berechnen und in Zukunft einfach die obigen Ergebnisse als Faustformel nehmen. Richtwerte für den Ruheverbrauch pro Stunde sind:

50 kg60 kg70 kg80 kg90 kg100 kg
110 kcal130 kcal150 kcal170 kcal195 kcal215 kcal

Mit der Formel lässt sich auch berechnen, wie es um die entsprechenden Geschwindigkeiten v und v’ bestellt sein muss, damit zwei Personen verschiedener Körpermaße (oder eine Person nach Veränderung der Körpermaße) denselben Leistungsoutput erbringt:

(0,036+0,03*v²/h)*m = (0,036+0,03*v’²/h’)*m’

Legt der obige Jogger zum Beispiel 15 kg an Körpergewicht zu, also von m = 75 kg (die guten alten Zeiten) zu m’ = 90 kg, dann reicht statt der Geschwindigkeit v = 2,5 m/s = 9 km/h die Geschwindigkeit v = 2,3 m/s = 2,2 m/s = 7,9 km/h um denselben Leistungsoutput (gemessen in kcal pro Minute) zu erreichen. Das natürlich nur als mathematische Rechtfertigung, wieso meine Geschwindigkeit beim Jogging unter dem Durchschnitt liegt.

;)

Und auch am Rande: Die Kräfte auf die Beine / Gelenke steigen ebenfalls quadratisch mit der Geschwindigkeit. Das folgt aus der Erhaltung des Impulses, siehe hier. vI ist hier die Impact-Velocity (Aufprallgeschwindigkeit des Fußes), nicht die Laufgeschwindigkeit. Es besteht aber ein einfacher empirischer Zusammenhang zwischen Aufprall- und Laufgeschwindigkeit, nämlich vI = 0,2*v. Beim Joggen v = 9 km/h liegt die Aufprallgeschwindigkeit also grob bei vI = 1,8 km/h, die typische Maximalbeschleunigung beim Aufprall im Bereich 3-6 g. Dämpfend wirkt sI, die Strecke, über welcher diese Geschwindigkeit abgebaut wird. Diese wird vor allem bestimmt durch die Härte des Bodens und der Federung der Schuhe. Schonend joggen heißt also: langsam, weicher Untergrund, gute Schuhe.

Der Rest ist für Nerds: Für zeitlich variable Geschwindigkeiten v(t), wie etwa einer linearen Abnahme der Geschwindigkeit mit der Zeit, was für Jogging recht typisch ist, oder abwechselnden Phasen von Laufen / Joggen bzw. Joggen / Sprinten, lässt sich folgende Formel verwenden:

E = (0,036+0,03/h*int(0,t)(v(η)²dη))*m

Wobei int(0,t) das Integral von 0 bis t bezeichnet. In diesem Fall müssen vor der Rechnung die Zeiteinheiten angepasst werden, also entweder die Zeit in Sekunden verwenden oder die Geschwindigkeit in m/min ausdrücken. Zur Vereinfachung der Rechnung kann man eine lineare oder exponentielle Abnahme der Geschwindigkeit verwenden, für die meisten Fälle dürfte das absolut ausreichend sein. Will man es aber “auf die Dezimale” genau wissen, so empfiehlt sich der Ansatz:

v(t) = v0*(a^n)/(a^n+t^n)

Mit v0 als Anfangsgeschwindigkeit und zwei positiven Konstanten a und n. Diese Formel erfasst den typischen Verlauf der Geschwindigkeit beim Joggen besser: Eine recht konstante Geschwindigkeit v0 in einer gewissen Anfangszeit (Plateau), gefolgt von einer stetigen Abnahme. Beim linearen und exponentiellen Modell reduziert sich die Geschwindigkeit von Beginn an, was sich, wie erwähnt, empirisch nicht halten lässt. Für n = 1 und n = 2 lässt sich das Integral über das Quadrat der Geschwindigkeit sogar schön lösen, der Ansatz ist also auch praktikabel.

*Hinweis zur Geschwindigkeitsabhängigkeit: Viele biomechanische Modelle sagen sogar einen größeren Exponenten als hoch zwei voraus, typischerweise im Bereich von hoch drei bis hoch vier. Insofern kann man davon ausgehen, dass Ludlow / Weyand 2015 noch nicht das letzte Wort ist. Aber zumindest stellt es in dieser Hinsicht eine deutliche Verbesserung gegenüber dem ACSM-Modell dar.

Empathie plus Impulsivität ergibt Selbstverachtung

Ich wollte eine Hypothese testen, die mir schon lange im Kopf geistert. Der Ausgangspunkt für die Hypothese ist folgende Frage: Wie kann man erklären, dass es Menschen gibt, die einerseits eine sehr soziale / empathische Persönlichkeit besitzen (gemessen am Big Five Merkmal Agreeableness), gleichzeitig aber von aggressiven / antisozialen Gedanken geplagt werden? Also ein Leben in einem konstanten Spannungsfeld zwischen einer sozialen Natur und aggressiven Gedanken verbringen? Das trifft natürlich auf jeden Menschen zu einem gewissen Grad zu, aber mich interessieren vor allem die Fälle, bei denen diese Diskrepanz einen großen Raum einnimmt und sich in entsprechendem Verhalten äußern kann.

Ein sehr einfacher Mechanismus, der das erklären könnte, wäre die Kombination aus hoher Agreeableness plus niedriger Impulskontrolle mit dem Zusatz, dass das Aufsteigen von aggressiven / antisozialen Impulsen ein ganz normaler Prozess ist. Es ist dann leicht zu sehen, wie ein ständiger Konflikt zwischen der sozialen Natur und fehlregulierten aggressiven Impulsen entsteht. Setzt man ein Mindestmaß an Reflektion voraus, darf man davon ausgehen, dass der Person dieser Konflikt bewusst ist und dies schlussendlich zu Selbstablehnung und Identitätskrisen führt.

Es ist natürlich einfach, schön-klingende und plausible Hypothesen zu basteln, jedoch umso schwieriger, diese auch zu testen. Wenn die Hypothese stimmt, müssten alle sich daraus ergebenden Vorhersagen in den Daten sehen lassen. Eine der zu testende Vorhersagen wäre wie folgt: Bei wenig sozialen Menschen führt eine höhere Impulsvität nicht (oder nur minimal) zu mehr Selbstablehnung, während bei sehr sozialen Menschen eine höhere Impulsivität recht deutlich zu mehr Selbstablehnung führt. Das beweist natürlich nicht, dass der vorgeschlagene Mechanismus stimmt. Aber zumindest könnte man den Mechanismus in den Müll werfen, sollte der Test versagen.

Ein Datensatz aus dem Harvard Dataverse mit n = 583 Teilnehmern (USA, 55 % Frauen, mittleres Alter 36 Jahre, Minimum 14 Jahre bis Maximum 84 Jahre, 40 % Singles) hilft hier weiter. Erstmal der 3D-Plot Selbstablehnung – Impulsivität – Agreeableness und die seperaten Regressionen für jede der vier Agreeableness-Gruppen von (VERY LOW, LOW, HIGH, VERY HIGH).

Man sieht, am Plot wie auch den Regressionen, dass der Test erfolgreich ist. In der Gruppe der wenig sozialen Menschen steigt die Selbstablehnung mit der Impulsivität an, aber nur in einem geringen Maß (ß = +0,13 oder +0,5 Standardabweichungen über die gesamte Skala, insignifikanter Effekt p > 0,05). Bei sehr sozialen Menschen steigt die Selbstablehnung viel stärker mit steigender Impulsivität an (ß = +0,34 oder +1,6 Standardabweichungen, signifikanter Effekt p < 0,001). Die Hypothese bleibt also nach diesem Härtetest plausibel.

Eine weitere (zugegebenermaßen sehr schwache) Stütze für die Plausibilität der Hypothese kommt aus der unterschiedlichen Empfindlichkeit für Moralität. Laut dem obigen Mechanismus führt erst die Reflektion der Diskrepanz zu Selbstablehnung. Die Diskrepanz zwischen der sozialen Natur und den aggressiven Gedanken muss also von der Person a) erkannt werden und b) als problematisch eingestuft werden. Reflektion wurde in dem Datensatz nicht gemessen, Moralempfindlichkeit jedoch schon, nämlich als Teil der Psychopathie-Skala:

Je sozialer / empathischer eine Person, desto mehr Wert legt die Person auf die Moralität von Gedanken und Handlungen. Der Zusammenhang ist mit ß = -0,64 außerordentlich stark. Bei Menschen sozialer Natur ist also die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass eine solche Diskrepanz im Laufe der Reflektion als problematisch eingestuft wird. Das passt gut ins Bild. Ein nächster Schritt wäre die Rolle der Reflektion für Selbstablehnung zu testen, jedoch habe ich bisher keine geeigneten Datensätze dafür gefunden und muss es entsprechend dabei belassen. Kritik an allem obigen ist natürlich herzlich willkommen.